Die Arktis ist uns näher als wir denken

Presse/Medien: Medienbericht

Beschreibung

Die Arktis ist uns näher als wir denken

Eine Gaspipeline verbindet Österreich mit Nordwestsibirien. Wie es sich am anderen Ende der Pipeline lebt, war die Frage eines Disziplinen übergreifenden Projekts, das insbesondere auf das Phänomen des Fernpendelns aus der Sicht von Migrationsforschung und Sozialanthropologie fokussierte.

Eine Woche lang strömt das Erdgas, bis es in Österreich ankommt. Es wird nördlich des Ural, auf der Halbinsel Jamal, gefördert. Die enormen Gasvorkommen werden vor Ort von Konzernen wie Gazprom gefördert und deshalb verbringen dort - neben dem indigenen Volk der Nenzen  - mehr und mehr Fernpendler/innen (über 10 Prozent der Mitarbeiter/innen in der Petroleumindustrie sind weiblich) im Rahmen von Schichtarbeit einen Teil ihres Lebens. 

Pipelines aus dem Norden bringen Gas – aber sie regen auch an, Fragen zu stellen; Fragen, denen Gertrude Saxinger und Heinz Faßmann in einem FWF geförderten Kooperationsprojekt zwischen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Universität Wien nachgegangen sind: Wie leben die Menschen, die den kostbaren Rohstoff fördern? Was motiviert sie zum Fernpendeln in den hohen Norden, zu einem Leben auf Achse? Und welche Konflikte entstehen dabei? Heinz Faßmann war in erster Linie an den neuen Formen der Migration interessiert, Gertrude Saxinger fokussierte als Sozialanthropologin auf Aspekte neuer Organisationsformen eines Lebens hoher zyklischer Mobilität und Multilokalität beim Phänomen Fernpendeln. Die Entwicklung von Normalität innerhalb eines extrem mobilen Lebens in einer extremen klimatischen Umwelt steht dabei im Zentrum.

Arbeit – Reise – Familie

„Wir leben eigentlich zwei Leben in einem“, hörte Saxinger immer wieder bei Gesprächen mit Fernpendler/innen: Ein streng geregeltes Leben im Camp im Norden mit klar strukturierten Aufgaben in der Erdgasförderung; und dann einige Wochen Freizeit mit der Familie. „Eigentlich sind es sogar drei soziale Bereiche, die das Fernpendeln kennzeichnen“, ergänzt die Sozialanthropologin: „Zur An- und Abreise verbringen die Arbeiter/innen nämlich mehrere Tage im Zug von den Zentralregionen in die Arktis. Hier entstehen Gemeinschaften, hier tauschen sie sich mit Menschen aus, die ein ähnliches Leben führen.“ Obwohl Fernpendeln kein rein männliches Phänomen ist, so sind es doch meist die Frauen, die das Familienleben in südlicheren Gefilden organisieren – allerdings erhalten sie eine erhebliche Aufwertung als Familienoberhaupt; die Männer steuern den Verdienst aus der Gasindustrie bei. Der familiäre Zusammenhalt setze großes Vertrauen in die Partnerschaft voraus. Der Großteil der Familien schafft es, sich den Anforderungen des Fernpendelns anzupassen. Somit pendeln Menschen über Jahrzehnte bis zur Pension. Alternative Normen von Familienstruktur und Geschlechterrollen werden entwickelt, die im Alltag in den Herkunftsregionen nichts Besonderes mehr darstellen – denn auch die Nachbarschaft und Verwandtschaft lebt mobil und dies wird an die nächste Generation weitergegeben, so Saxinger.

Formen der Migration

„Diese Art der Arbeitsmigration unterscheidet sich ganz deutlich von der uns vertrauten Siedlungsmigration, bei der ein alter Wohnort aufgegeben und durch einen neuen ersetzt wird.“, macht Heinz Faßmann aufmerksam. Das Phänomen ist aber nicht unbedingt neu, es wurde nur vom Bild einer immobilen, vormodernen Gesellschaft verdrängt. Die Gesellenwanderung, die saisonale Wanderung landwirtschaftlicher Arbeitskräfte oder eine große Zahl „auf der Straße“ lebender sozialer Gruppen hat es gleichsam immer schon gegeben. Was sich jedoch geändert hat, ist die Intensität der räumlichen Mobilität und die dabei überwundenen Distanzen. Fernpendeln wurde zunehmend zur Überlebensstrategie von Haushalten in ökonomisch und oft auch geographisch peripheren Räumen und begegnet uns heute als das Pendeln von Pflegekräften, von Saisonarbeitern im Tourismus oder in der Land- und Forstwirtschaft oder von Arbeitskräften in der Erdöl- und Erdgasindustrie. Fernpendeln ist jedenfalls in Russland kein Randphänomen: Aus der russischen Teilrepublik Baschkortostan – beispielsweise, am äußersten Ostrand Europas gelegen, pendeln etwa 100.000 Menschen aus und sichern dadurch den Lebensstandard der Familien im Süden. Sie tragen auch wesentlich zur sozio-ökonomischen Entwicklung der nach wie vor schwachen russischen Regionen bei.

„Diese Art der Arbeitsmigration unterscheidet sich ganz deutlich von der uns vertrauten Siedlungsmigration, bei der ein alter Wohnort aufgegeben und durch einen neuen ersetzt wird.“, macht Heinz Faßmann aufmerksam. Das Phänomen ist aber nicht unbedingt neu, es wurde nur vom Bild einer immobilen, vormodernen Gesellschaft verdrängt. Die Gesellenwanderung, die saisonale Wanderung landwirtschaftlicher Arbeitskräfte oder eine große Zahl „auf der Straße“ lebender sozialer Gruppen hat es gleichsam immer schon gegeben. Was sich jedoch geändert hat, ist die Intensität der räumlichen Mobilität und die dabei überwundenen Distanzen. Fernpendeln wurde zunehmend zur Überlebensstrategie von Haushalten in ökonomisch und oft auch geographisch peripheren Räumen und begegnet uns heute als das Pendeln von Pflegekräften, von Saisonarbeitern im Tourismus oder in der Land- und Forstwirtschaft oder von Arbeitskräften in der Erdöl- und Erdgasindustrie. Fernpendeln ist jedenfalls in Russland kein Randphänomen: Aus der russischen Teilrepublik Baschkortostan – beispielsweise, am äußersten Ostrand Europas gelegen, pendeln etwa 100.000 Menschen aus und sichern dadurch den Lebensstandard der Familien im Süden. Sie tragen auch wesentlich zur sozio-ökonomischen Entwicklung der nach wie vor schwachen russischen Regionen bei.

Saxinger hat während der letzten Jahre viele Monate in der Arktis verbracht und neben Arbeiter/innen großer Förderfirmen wie Gazprom auch Industriearbeiter/innen der Anlagenbauer kennengelernt, sowie auch Leute der indigenen Bevölkerung der Nenzen. Die vergleichsweise größte Wertschätzung durch Mitarbeiter/innen erfahren Großkonzerne wie Gazprom oder Rosneft. Solche staatsnahen Konzerne können langfristige Sicherheiten, hohe Gehälter und Sonderleistungen bieten. Sie setzen einiges daran, das Leben in der Kälte und unter schwierigen Lichtverhältnissen zu erleichtern. Viel weniger lukrativ ist es, in der Erschließung der Gasfelder zu arbeiten, wo Auslagerung und Subunternehmertum mit weniger guten Arbeitsbedingungen weit verbreitet sind. Neue Quellen werden meist von kleineren Anlagenbaufirmen mit einem flexiblen Arbeitskräfte-Pool in vergleichsweise kurzer Zeit erschlossen. Sobald das Gas strömt, ziehen sie weiter. „Das ist sicherlich auch ein Grund, warum die Firmen meist mit Pendlern aus der Ferne arbeiten. Denn Mitgliedern der indigenen Nenzen fehlt zum einen die adäquate Ausbildung für attraktive Posten, da es hier an einer entsprechenden Qualifizierungspolitik seitens des Staates und der Konzerne fehlt. Zum anderen sind sie weniger bereit, ihre Gemeinschaften und ihre traditionelle Lebensweise gänzlich aufgeben, nur um mit Erschließungsfirmen von Ort zu Ort zu ziehen“, berichtet die Sozialanthropologin.

Reich an Gas, reich an Konflikten

Die Halbinsel Jamal wird seit mehreren Tausend Jahren von nomadischen Rentierzüchtern bewohnt. Heute leben dort etwa 15.000 Angehörige der Nenzen, die seit einigen Jahrzehnten Konkurrenz um das von ihnen genutzte Land bekommen haben. In den Tiefen lagern ungeheure Erdgasreserven, die als die Stütze der russischen Wirtschaft gelten. Die Energie aus dem Norden hat ihren Preis – den allerdings nicht nur diejenigen bezahlen, die die Energie auch konsumieren. Speziell für die Nenzen bedeutet der Gasreichtum eine Beschneidung ihres traditionellen Wirtschaftsraums. Sie und ihre Rentierherden spüren die Last der Umweltzerstörungen hautnah. Entschädigungen oder Mitspracherechte sind für die etwa 15.000 Nenzen in Jamal äußerst schwierig zu erkämpfen. „‘Reich an Gas‘ bedeutet für die Förderindustrie und für jene, die in der Förderindustrie arbeiten, aber auch: ‚abhängig vom Gas‘ und damit abhängig vom Weltmarkt und abhängig von der Weltpolitik“, macht Migrationsforscher Faßmann aufmerksam. Rohstoffreichtum stellt auch so etwas wie eine ökonomische Falle dar, die Weiterentwicklung und Innovationen verhindert.

Perspektiven wechseln. Immer wieder!

„Die Arktis ist uns näher als wir denken“, fasst Saxinger zusammen. Der Zugang aus der Sicht von Sozialanthropologie und Migrationsforschung ist darauf ausgerichtet, ein zusammenhängendes, holistisches Verständnis für ein soziales Phänomen zu ermöglichen: ausgehend von Gemeinschaften in entlegenen Gebieten bis hin zu globalen Zusammenhängen. Das Projekt habe zudem auf einer theoretischen Ebene gezeigt, wie sich eine neue Migrations- und multilokale Lebensform etabliert hat, und wie Gesellschaften lernen, mit Umständen, die für ein traditionelles Familienleben alles andere als förderlich sind, umzugehen, so Faßmann. Neue Formen des Zusammenlebens bringt die zunehmend mobilere Welt zwangsläufig mit sich und diese Formen müssen für die Menschen nicht unbedingt negativ sein, ergänzt Saxinger.

FWF-Projekt Leben auf Achse - Vakhtoviki in Nordwest-Sibirien

Kontakt

 

Prof. Heinz Faßmann, Geograph und Migrationsforscher an Universität Wien und ÖAW
Dr.in Gertrude Saxinger, Sozialanthropologin an der Universität Wien

Zeitraum9 März 2015

Medienabdeckung

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Medienabdeckung

  • TitelDie Arktis ist uns näher als wir denken
    Medienbezeichnung/OutletAkademie-News
    Dauer/Länge/GrößeWien
    Datum der Veröffentlichung9/03/15
    Produzent/AutorWaltraud Niels
    PersonenHeinz Faßmann

Schlagwörter

  • Fernpendeln, Migration, Russische Artkis